Sollten das also vielleicht die Gründe für die mangelnde Wertschätzung des Dichters sein: Die kleine Wissenschaft der Orientalistik hatte nie genügend Öffentlichkeit um Rückert nachhaltig als einen ganz Großen ihrer Zunft preisen zu können und die Germanisten lasen nur oft seltsam klingende Übersetzungen und Nachdichtungen, deren Wert sie nicht ermessen konnten?
Wahrscheinlich ist es aber die Fülle des Materials, die auch einen heutigen fleißigen Leser rasch an seine Grenzen führt. So ist zum Beispiel die Vertonung der «Kindertotenlieder» Rückerts durch Gustav Mahler in Bildungskreisen allgemein bekannt und wird von vielen geschätzt. Wer aber weiß schon, dass der Dichter über den schmerzlichen Tod seiner beiden jüngsten Kinder um die Jahreswende 1833/34 mehr als 400 «Kindertotenlieder» schrieb. Die Gedichte und andere Texte quollen zeitlebens buchstäblich aus ihm heraus. Wer kennt Rückert schon als politischen Dichter der Jahre 1848/49? Viele seiner Werke haben auch didaktischen Charakter, was nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen ist, dass er ein hingebungsvoller Vater war. Sein berühmtestes Werk aus diesem Zusammenhang ist die «Weisheit des Brahmanen», erstmals 1836-38 in sechs dünnen Bänden erschienen.
Sicherlich kann nicht vorausgesetzt werden, dass ein derart produktiver Dichter nur Weltliteratur hervorbringt. Da sind auch Seltsamkeiten und Trivialitäten zu finden, wie Gedichte über den Tod eines Kanarienvogels, Schneeflocken im April, moderne Technik, Ärger über einen allzu frommen Theologen, ein Lob der Zigarre oder der Überschuhe. Rückert aber schrieb unter dem selbst aufgestellten Verdikt: «Weltpoesie ist Weltversöhnung». Was er für dieses Ziel schuf, bezeichnete der schon erwähnte Rückert-Forscher Herman Kreyenborg als «Thesaurus der Weltliteratur..., der die kühnsten Träume eines Herder und Goethe an Vielseitigkeit und Meisterschaft überstiege...»
Und muss es nicht zu denken geben, dass nicht nur Gustav Mahler, sondern eine Vielzahl prominenter Komponisten seine Texte vertont haben? Eine genaue Übersicht aller vertonten Rückertlieder gibt es bis zum heutigen Tage nicht. Aber der Kreis der bekannten Vertonungen von Schubert, Schumann und Mahler darf erweitert werden um Namen wie Wilhelm Kienzl, Ludwig Spohr, Carl Loewe, Franz Liszt sowie eine Anzahl weniger bekannter moderner Komponisten.
Auch wenn er von Einzelnen einer deutschnationalen Gesinnung beschuldigt wird, so ist dies aus heutiger Sicht eher als eine Erscheinung seiner Zeit zu betrachten. Friedrich Rückerts bleibender Wert besteht in der von ihm gelebten und vertretenen Toleranz und in seiner Neugier gegenüber den Menschen anderer Zeiten und anderer Gegenden dieser Welt. So gesehen steht er eindeutig auf der Seite der positiven demokratischen Strukturen im deutschen Volk, auf deren Tradition unser heutiger Staat aufbaut. Seit 1998 erscheint nun nach und nach die historisch-kritische Gesamtausgabe. Hanns Wollschläger und Rudolf Kreutzer haben sie begründet und bis in das Jahr 2018 sind 11 (z.T. Doppel-)bände als "Schweinfurter Edition" im Verlag Wallstein, Göttingen, erschienen. Seit 2001 veröffentlicht der US-Verlag Adamant Media Corporation "Friedrich Rückert's gesammelte poetische Werke", die im Sauerland-Verlag, Frankfurt/Main, 1882 veröffentlicht worden waren.